Deutsche Entwicklungspolitik am Scheideweg

Eine kritische Betrachtung des Sammelbands von Bonschab, Kappel und Klingebiel

In einer Zeit tiefgreifender geopolitischer Verwerfungen und knapper werdender öffentlicher Haushalte stellt der kürzlich erschienene Sammelband „Deutsche Entwicklungspolitik in der Diskussion“ eine bemerkenswerte Bestandsaufnahme des Politikfelds dar. Herausgegeben von Thomas Bonschab, Robert Kappel und Stephan Klingebiel versammelt das Werk führende Stimmen der entwicklungspolitischen Debatte in Deutschland und liefert damit wichtige Impulse für die anstehenden Regierungsverhandlungen.

Ein Politikfeld unter Druck

Der Band erscheint zu einem kritischen Zeitpunkt: Die zweite Trump-Administration hat USAID faktisch demontiert, die Budgets für Entwicklungszusammenarbeit (EZ) schrumpfen europaweit, und populistische Stimmen stellen den Sinn der EZ grundsätzlich infrage. Die jüngsten Haushaltkürzungen im BMZ-Etat haben dabei eine längst überfällige Debatte zur strategischen Neuausrichtung deutscher Entwicklungspolitik ausgelöst, der sich dieser Sammelband widmet.

Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung feststellen, hat das „Politikfeld Entwicklungszusammenarbeit“ in den vergangenen Jahren „mächtig“ gelitten – durch die Coronapandemie, den Ukraine-Krieg und die zunehmende Versicherheitlichung internationaler Kooperation. Die daraus resultierende Orientierungskrise spiegelt sich in den verschiedenen Beiträgen wider, die sowohl analytische Einordnungen als auch konkrete Reformvorschläge bieten.

Geopolitische Neuverortung und institutionelle Debatten

Besonders erhellend sind die Beiträge, die die deutsche Entwicklungspolitik im Kontext globaler Machtverschiebungen verorten. Stephan Klingebiel analysiert in seinem Beitrag, wie die USA unter Trump systematisch ihren Entwicklungsapparat destruieren und dadurch ein Vakuum hinterlassen, das nicht leicht zu füllen sein wird. Die strukturellen Konsequenzen für die internationale Entwicklungsarchitektur sind gravierend und zwingen Deutschland zu einer Neupositionierung.

Ein zentraler Debattenstrang des Bandes kreist um die Frage der institutionellen Verortung der Entwicklungspolitik. Anna-Katharina Hornidge und Julia Leininger argumentieren vehement gegen eine Zusammenlegung von BMZ und Auswärtigem Amt, wie sie immer wieder gefordert wird: „Deutschland ist auf strategische Allianzen, stabile Nachbarschaften und die Fähigkeit angewiesen, sich selbst eben dort zu verteidigen, wo die Logik der Kooperation gescheitert ist“. Eine Fusion mitten im „Epochenbruch“ würde die Handlungsfähigkeit Deutschlands schwächen, nicht stärken.

China und die BRICS-Staaten als Herausforderung

Besonders aufschlussreich ist der Beitrag von Robert Kappel und Thomas Bonschab zu den BRICS-Staaten. Sie hinterfragen kritisch die oft überzogenen Befürchtungen hinsichtlich dieses Staatenbunds und argumentieren: „China sollte eigentlich nicht zu den BRICS gezählt werden. Das Land ragt in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht zu sehr aus dem Rahmen“. Ihre nüchterne Analyse der wirtschaftlichen und politischen Heterogenität dieser Ländergruppe hilft, Chinas Rolle differenzierter zu verstehen und überhastete Reaktionen in der deutschen Politik zu vermeiden.

Die Frage nach Eigeninteressen und Werteorientierung

Ein wiederkehrendes Spannungsfeld in vielen Beiträgen ist die Frage, inwieweit deutsche Entwicklungspolitik offen eigene Interessen verfolgen sollte. Günther Maihold kritisiert, dass die „Entwicklungszusammenarbeit einer wachsenden Instrumentalisierung für andere Politikfelder ausgesetzt ist“, während sie „im Zeichen einer ‚entwicklungspolitischen Zeitenwende‘ eine klare Wendung zu deutscher Interessenpolitik vollzogen hat“.

Tilman Altenburg und Clara Brandi finden hier eine ausgewogene Position: Sie lehnen eine rein an Wirtschaftsinteressen ausgerichtete EZ ab, da „liefergebundene EZ 15-30% teurer ist“, aber plädieren für eine stärkere Ausrichtung auf Themen, „die im weiteren Sinne im deutschen Interesse sind und dabei dem globalen Gemeinwohl verpflichtet bleiben“. Ihr Ansatz erscheint pragmatisch und zukunftsorientiert.

Strukturelle Reformen und neue Prioritäten

Jürgen Zattler liefert mit seiner Analyse einen der konkretesten Reformvorschläge. Er fordert eine „Reform und Stärkung des Politikfeldes“ und skizziert neun Elemente für eine Neuausrichtung, darunter den „Aufbau neuer Partnerschaften auch mit Ländern, mit denen wir nicht alle Grundwerte teilen“ und eine Abkehr von „kleinteiligen Projekten zu transformativen, geber-koordinierten und in Partnerstrukturen integrierten Programmen“.

Robert Kappel fordert in seinem Beitrag, deutsche EZ müsse „in die Lage versetzt werden, in größerem Umfang private Marktmittel für die Entwicklungsfinanzierung zu mobilisieren“ und schlägt sogar vor, „KfW und GIZ zusammenzulegen“ – ein durchaus kontroverser Vorschlag, der die bestehenden Strukturen radikal infrage stellt.

Historische Einordnung und grundsätzliche Legitimationsfragen

Besonders wertvoll ist Theo Rauchs historische Einordnung der EZ-Kritik. Er erinnert daran, dass „etwa alle zehn Jahre die Stimmen derer, die die EZ abschaffen wollen, zu einer gewaltigen Welle im öffentlichen Diskurs“ kumulieren. Seine Differenzierung zwischen der Frage der Notwendigkeit und der Frage der Wirksamkeit schafft Klarheit in einer oft emotionalen Debatte.

Kritische Würdigung: Stärken und Schwächen des Bandes

Der Sammelband besticht durch die Vielfalt der Perspektiven und die Tiefe der Analysen. Er vermeidet sowohl eine unkritische Verteidigung des Status quo als auch einen populistischen Abgesang auf die Entwicklungspolitik. Die Herausgeber haben es geschafft, kritische Stimmen aus unterschiedlichen Richtungen zu versammeln und damit eine echte Diskussion zu ermöglichen.

Dennoch weist der Band auch Lücken auf. Feministische Entwicklungspolitik, ein zentrales Paradigma der aktuellen Bundesregierung, wird kaum substantiell diskutiert, sondern eher am Rande als ein Beispiel für wertebasierte Politik erwähnt. Auch die Rolle der Zivilgesellschaft und die Perspektiven aus den Partnerländern selbst bleiben unterbelichtet.

Auffällig ist zudem, dass trotz der diversen Autorenschaft der Band hauptsächlich etablierte Stimmen versammelt. Jüngere Perspektiven oder radikalere Ansätze kommen kaum zu Wort. Dies spiegelt möglicherweise genau jene institutionelle Pfadabhängigkeit wider, die die Herausgeber in ihrer Einleitung kritisieren.

Relevanz für die anstehenden Regierungsverhandlungen

Für die anstehende Regierungsbildung liefert der Band wichtige Denkanstöße. Die zentrale Erkenntnis lautet: Ein bloßes „Weiter so“ in der Entwicklungspolitik ist keine Option mehr. Ob durch institutionelle Reformen, neue inhaltliche Schwerpunkte oder eine strategischere Ausrichtung an deutschen Interessen – die Entwicklungspolitik muss sich neu legitimieren und positionieren.

Besonders relevant erscheinen dabei drei Aspekte:

  1. Die Notwendigkeit, Entwicklungspolitik nicht mehr vorrangig moralisch, sondern auch durch gemeinsame Interessen zu begründen
  2. Die Einsicht, dass die wachsende geopolitische Konkurrenz mit China eine strategischere Ausrichtung der EZ erfordert
  3. Die Erkenntnis, dass Effizienzsteigerungen und institutionelle Reformen unumgänglich sind

Fazit: Ein wichtiger Impuls zur richtigen Zeit

Der Sammelband kommt genau zur richtigen Zeit und bietet der anstehenden Regierungsbildung einen reichen Fundus an Analysen und Vorschlägen. Er zeigt: Die deutsche Entwicklungspolitik steht vor einem grundlegenden Wandel, der sowohl Bedrohung als auch Chance ist.

Wie Robert Kappel in seinem Beitrag treffend bemerkt: „Entwicklungspolitik dient wie Außenpolitik, Wirtschafts- und Umwelt- sowie Kultur- und Sicherheitspolitik dem Wohle Deutschlands. Es ist nicht unsere Aufgabe, andere Länder zu entwickeln, schon gar nicht reinzuregieren oder anstatt der jeweiligen nationalen Regierungen Aufgaben zu übernehmen. Machen wir Schluss mit Paternalismus und Besserwisserei“.

Die kommende Bundesregierung wäre gut beraten, diesen Sammelband zur Pflichtlektüre zu machen. Nicht um allen Vorschlägen zu folgen, sondern um die Komplexität und Vielschichtigkeit der Herausforderungen zu verstehen, vor denen die deutsche Entwicklungspolitik steht. Eine fundierte, ideologiefreie Debatte, wie sie dieser Band anstößt, ist der erste Schritt zu einer zukunftsfähigen Entwicklungspolitik.

Weitere Information

Thomas Bonschab, Robert Kappel und Stephan Klingebiel (Hrsg.) Deutsche Entwicklungspolitik in der Diskussion, Berlin, Bonn, Frankfurt 2025, https://weltneuvermessung.wordpress.com/2025/03/27/deutsche-entwicklungspolitik-in-der-diskussion/

Hinweis
Die Sammlung umfasst überarbeitete Beiträge des Blogs Weltneuvermessung, die seit 2024 dort publiziert wurden. Herausgeber des Blogs sind Thomas Bonschab und Robert Kappel.