Zwischen Aufbruch und Realitätssinn: Diskussionspapier des Progressiven Zentrums
Die Abkehr der USA vom Multilateralismus ist keine neue Erscheinung, aber unter der zweiten Trump-Präsidentschaft hat sie eine neue Qualität erreicht. Der Eklat im Weißen Haus mit dem ukrainischen Präsidenten und die offen zur Schau gestellte Distanzierung von Europa haben endgültig klargemacht: Die Zeit des „politischen Westens“ unter amerikanischer Führung ist vorbei. In diesem Kontext erscheint der Sammelband „Wir sind nicht allein: Wie Deutschland und Europa die Abkehr der USA für die eigene Stärke und eine neue Form der internationalen Partnerschaftlichkeit nutzen können“ vom Progressiven Zentrum genau zum richtigen Zeitpunkt.
Eine Bestandsaufnahme der neuen geopolitischen Realität
Der von Cathryn Clüver Ashbrook, Nicole Deitelhoff, Anke Hassel, Anna-Katharina Hornidge und Wolfgang Schroeder verfasste Band analysiert präzise die aktuelle Weltlage: Die USA ziehen sich aus ihrer Rolle als Führungsnation liberaler Demokratien zurück und wirken sogar aktiv an der Zerstörung der regelbasierten Ordnung mit – vom „Kahlschlag bei USAID“ über den „Rückzug aus der WHO und dem Pariser Klimaabkommen“ bis hin zu „neuen Strafzöllen und Handelskriegen“1.
Die Autor:innen argumentieren überzeugend, dass diese Entwicklung nicht erst mit Trump begann, sondern bereits seit den späten 1990er-Jahren an Dynamik gewann, als die westlich geprägten internationalen Regelwerke immer mehr als „Zwangsinstrumente westlicher Interessen“ wahrgenommen wurden1. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine fungierte dabei als Katalysator für eine bereits bestehende Tendenz.
Ein „Delors-Moment“ für Europa?
Der Kern des Sammelbands ist die These, dass Europa die amerikanische Abkehr als Chance begreifen sollte – als Impuls für eine vertiefte Integration im Sinne eines „neuen Delors-Moments“1. Wie in den 1980er Jahren könnte der äußere Druck zu einem Integrationsschub führen, der Europas Wettbewerbsfähigkeit und Handlungsmacht stärkt. Die Autor:innen plädieren für ein „Europa der variablen Geschwindigkeiten“, in dem die EU zwar institutioneller Kern bleibt, aber durch weitere Foren und Organisationen ergänzt wird1.
Besonders überzeugend ist der Ansatz, Innen- und Außenpolitik zusammenzudenken: Deutschland kann sein Wohlstandsmodell nur erhalten, wenn es gleichzeitig die europäische Integration vorantreibt und neue internationale Partnerschaften etabliert. Die „leistungsfähige, nachhaltige industrielle Basis“ ist untrennbar verknüpft mit der „regelbasierten internationalen Ordnung“1.
Neue Partnerschaft mit dem Globalen Süden
Ein innovativer Aspekt des Sammelbands ist die Betonung neuer Partnerschaften mit Mittel- und Niedrigeinkommensländern. Die Autor:innen argumentieren, dass viele dieser Staaten trotz Kritik am Westen ein Interesse an einer regelbasierten Ordnung haben. Um sie als Partner zu gewinnen, fordern sie eine Reform internationaler Regelwerke und Organisationen, die „fairere Beteiligungsrechte“ einräumen und einen „höheren Nutzen ermöglichen“1.
Diese Position erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen entwicklungspolitischen Debatte in Deutschland besonders relevant. Der kürzlich veröffentlichte 17. Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung betont, dass die deutsche Entwicklungspolitik heute „weiblicher, multilateraler und partnerschaftlicher“ aufgestellt sei6. Die Neuausrichtung auf eine „feministische Entwicklungspolitik“ und den Aufbau „sozialer Sicherungssysteme“ wird im Sammelband implizit aufgegriffen und in einen breiteren strategischen Rahmen eingebettet2.
Kritische Würdigung: Zwischen Realismus und Wertediskussion
Der Sammelband balanciert geschickt zwischen realpolitischen Erwägungen und wertebasierter Außenpolitik. Die Autor:innen sprechen sich für eine „neue Bescheidenheit mit Blick auf die Durchsetzung der eigenen Wertevorstellungen“ aus1, ohne jedoch zentrale Grundwerte aufzugeben. Dieser pragmatische Ansatz vermeidet sowohl naiven Idealismus als auch wertfreien Zynismus.
Dennoch bleibt die Frage, wie weit diese „strategische Abwägung“ gehen soll. Wenn viele Staaten des Globalen Südens „Interesse an der Aufrechterhaltung der regelbasierten Ordnung, nicht aber ihrer im engeren Sinne liberal-demokratischen Variante“ haben1, wo liegen dann die roten Linien? Der Sammelband deutet an, dass die „Grenzen mit Grundprinzipien des Völkerrechts und der Menschenrechts-Charta umrissen werden können“1, bleibt aber an manchen Stellen vage.
Kritisch anzumerken ist auch, dass die konkrete Umsetzung der vorgeschlagenen Reformen internationaler Organisationen teilweise unterbelichtet bleibt. Die Autor:innen betonen zwar die Notwendigkeit, die WTO zu reformieren, um „fairere Regeln“ zu etablieren1, aber die praktischen Hürden und Widerstände gegen solche Reformen werden nicht ausreichend diskutiert.
Relevanz für die kommende Bundesregierung
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte in Deutschland erhält der Sammelband zusätzliche Brisanz. Im Sondierungspapier der sich formierenden Regierungskoalition wird Entwicklungspolitik lediglich einmal erwähnt, „allerdings als Faustpfand für eine bessere Kooperation mit Herkunftsländern im Kontext von Abschiebungen und rigiderer Migrationspolitik“8. Diese Instrumentalisierung entwicklungspolitischer Zusammenarbeit steht im Widerspruch zur vom Sammelband geforderten „neuen Partnerschaftlichkeit“.
Die Autor:innen warnen zu Recht vor einer weiteren Polarisierung auf globaler Ebene und betonen, dass die kommende Bundesregierung alle außen(wirtschafts)- und entwicklungspolitischen Maßnahmen darauf prüfen sollte, „ob sie eine weitere Polarisierung auf globaler Ebene dämpfen oder verschärfen“1.
Fazit: Ein wichtiger Impuls zur richtigen Zeit
Der Sammelband „Wir sind nicht allein“ bietet einen wertvollen Kompass für die deutsche und europäische Politik in einer Zeit fundamentaler geopolitischer Verschiebungen. Die zentrale Stärke liegt in der Kombination aus nüchterner Analyse der neuen Weltordnung und konstruktiven Vorschlägen für einen europäischen Weg jenseits amerikanischer Führung.
Die kommende Bundesregierung täte gut daran, die drei zentralen Empfehlungen des Bandes ernst zu nehmen: Innen- und Außenpolitik als Einheit zu denken, die EU durch einen neuen Delors-Moment zu stärken und Partnerschaften mit dem Globalen Süden auszubauen. Gerade angesichts der drohenden Marginalisierung der Entwicklungspolitik im aktuellen Regierungsbildungsprozess ist die Lektüre dieses Sammelbands ein notwendiges Korrektiv.
Tim Heinkelmann-Wild stellt treffend fest: „Drei tiefgreifende Trends machen erneute Fälle des US-Rückzugs aus multilateralen Institutionen wahrscheinlich“3. Auf diese dauerhafte Veränderung der Weltordnung bietet der vorliegende Band keine einfachen, aber durchdachte Antworten. Zu hoffen bleibt, dass sie in Berlin und Brüssel Gehör finden.
Quelle
- Wir sind nicht allein: Wie Deutschland und Europa die Abkehr der USA für die eigene Stärke und eine neue Form der internationalen Partnerschaftlichkeit nutzen können, von Cathryn Clüver Ashbrook, Nicole Deitelhoff, Anke Hassel, Anna-Katharina Hornidge und Wolfgang Schroeder, März 2025, https://www.progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2025/03/250320_DPZ_Wie-Deutschland-und-Europa-die-Abkehr-der-USA-nutzen-koennen.pdf